Königreich Nituria, 1187 der Dannenland-Zeitrechnung
„Nicht nachlassen, Pellinor! Gib deine Deckung nicht auf! Achte auf die linke Seite, die linke!“
Pellinor biss die Zähne zusammen. Sein Gesicht glühte, sein Atem raste und, am schlimmsten, seine Arme brannten wie Feuer.
„Schneller, Pellinor, schneller!“
Er konnte nicht, beim besten Willen nicht. Alles in ihm schrie nach einer Pause.
„Wo sind deine Augen, Pellinor? Hier, sieh-“
Der Schmerz zerbarst in seiner linken Schulter, ein Hieb mit der Breitseite, aber das war genug. Pellinor spürte, wie ihm heiße Tränen in die Augen stiegen. Ein letztes Mal holte er mit den müden Armen aus und schleuderte das Schwert in eine Ecke des Raumes. Klirrend schlitterte es über den kalten Steinboden, das bleischwere Ding, und blieb liegen. Der Knauf eierte davon.
Pellinor blieb stehen und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Ein demütigendes Schluchzen hatte seinen Hals gepackt und ließ ihn würgen. Er wollte es nicht hervor lassen. Seine Schulter schmerzte. Der kahle Raum erschien ihm eng und stickig. Er schwitzte. Seine Augen brannten.
„Himmel, Pellinor, das wird ein ganzes Stück Arbeit werden“, sagte Adoras, der König von Nituria, und stand von seinem Platz in der Fensternische auf. Ein kurzes Nicken, und Heribard, der Seneschall, steckte sein eigenes Schwert in die Scheide zurück.
Pellinor starrte an den Gesichtern der beiden Männer vorbei auf den abgebrochenen Schwertknauf. Er fühlte sich gedemütigt. Dabei hatte er sich so gefreut, als sein stets beschäftigter Vater Adoras ihn mit der Nachricht überrascht hatte, er wolle sich Pellinors Können mit dem Schwert ansehen. Er hatte Heribard als Übungsgegner für Pellinor herbeibestellt, denn sein rechter Arm war immer noch nicht ganz von der Wunde verheilt, die er in der Schlacht um die Stadt Breàr-den und die Burg Haegalac davongetragen hatte.
Adoras’ Hand griff nach dem Knauf, drehte und wendete ihn, setzte ihn schließlich auf den Griff des Schwertes in seiner anderen Hand. „Nur eine Niete, nichts Schlimmes. Aber für den Anfang...“ Er machte einen Schritt auf Pellinor zu und hob die gesunde Hand, als wolle er sie seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter legen. Pellinor rührte sich nicht.
Da klopfte es an der Tür.
Adoras wandte sich ab. Pellinor starrte weiter starr auf den nun leeren Fleck Steinboden und rührte sich nicht.
„Was gibt es?“, hörte er Adoras fragen.
„Die Gesandtschaft der Amazonen, Herr.“
„Schon heute?“, fragte Adoras überrascht.
Pellinor wusste, worüber sie sprachen. Am Hof von Nituria wurde eine Gesandtschaft der Amazonen erwartet, eines kleinen Stammes von Frauen. Vor der Herrschaft König Medons hatten sie Nituria frei durchstreift und ihre Zelte nie für länger als einige Monate aufgeschlagen. Nach Medons Eroberung hatten sie sich in der entlegenen Gegend von Fioran verborgen gehalten, doch sie hatten Adoras und den Schwanenbund im Kampf gegen Medon unterstützt und erwarteten dafür, zu ihren alten Gepflogenheiten zurückkehren zu können. Dagegen regte sich Widerstand unter einigen der niturianischen Clanherren, nicht zuletzt, weil der Stamm entlaufene Töchter und Ehefrauen nur zu gern aufnahm. Was im Gewisper vereinzelter böser Zungen begonnen hatte, war nun dabei, die niturianischen Adeligen in zwei Lager zu spalten. Adoras hatte eine Gesandtschaft der Amazonen nach Breár-den geladen, um die Streitigkeiten ein für alle Mal beizulegen. Aber sie waren erst in den Tagen vor dem Erntefest am Ende des Monats Heleánor erwartet worden. Bis dahin waren es noch Dutzende Tage.
„Jawohl“, antwortete der Mann, der die Nachricht von ihrer Ankunft gebracht hatte. „Und ihre Königin selbst ist gekommen.“
Adoras wechselte einen halb überraschten, halb besorgten Blick mit Heribard.
„In diesem Fall sollten wir keine Zeit verlieren“, sagte der Seneschall mit gerunzelter Stirn, was sein scharf geschnittenes Gesicht noch wilder als sonst aussehen ließ.
„Ja“, sagte Adoras, „Ich werde sie begrüßen. Heribard? Gib meiner Frau Bescheid, wegen der Gästekammern... und sie soll die Mägde anweisen, ein Mahl für den Abend zu bereiten... was auch immer unsere Speisekammern hergeben. Und lass meine Soldaten ihre Schilde polieren und Königin Faeverral eine Garde stellen.“
Heribard nickte und entfernte sich geschäftig.
„Pellinor!“, sagte Adoras.
Pellinor blickte widerstrebend auf. Adoras musterte ihn seufzend. „Dein bestes Gewand für den Abend. Und nicht dieses Gesicht.“
Das beste Gewand war Pellinor ein Graus. Die schneeweiße Leinentunika durfte nicht befleckt werden, der goldbestickte Kragen kratzte und der dicke karierte Wollumhang, den Pellinor nach niturianischer Art um seine Schultern legen und an seiner rechten Schulter mit einer handtellergroßen Silberspange befestigen musste, kratzte umso mehr.
So saß er abends trübselig am rechten Ende des hohen Tischs in der großen Halle von Haegalac. Es war laut wie stets bei Festmählern. Die Finger eines Harfners glitten wenige Armlängen von Pellinor entfernt über die Saiten seines Instruments, doch die Melodie ging unter im Stimmengewirr und Klappern von Krügen und Bechern. Die Fackeln, die den fast fensterlosen Raum erhellten, erhitzen ihn an diesem Spätsommerabend unnötig. Nur das Augenzwinkern seiner kleinen Schwester Gewyna, die in ein bunt gewebtes, aber noch unbequemer aussehendes Wollkleid gesteckt worden war, hielt Pellinor davon ab, am Kragen seiner Tunika herumzuzerren.
Außerdem saß er zu weit von der Mitte der Tafel entfernt, um mitzuhören, was Adoras und Faeverral, die Königin der Amazonen, besprachen. Wenn er sich vorbeugte, konnte er gerade das ebenmäßige, strenge Gesicht der Amazonenkönigin sehen. Sie sah viel älter aus, als Pellinor sie von seiner ersten Begegnung im vorherigen Jahr in Erinnerung hatte. Im unsteten Fackelschein der Halle sammelten sich Schatten in harten Furchen um ihren Mund und graue Strähnen durchzogen ihren langen Zopf wie Spinnweben. Faeverral trug keinen Stirnreif wie Adoras, Saeryll und selbst Pellinor und Gewyna, doch ihr Gewand war mit einem goldgestickten, geknoteten Gürtel gerafft, der sie sofort von ihren Begleiterinnen abhob. Wie es Brauch war, hatte die Amazonenkönigin eine Garde in den grünen Waffenröcken der Niturianer erhalten, während zwei Amazonen mit ihren gekrümmten Schwertern hinter Adoras' and Saerylls Sitzen Wacht hielten. Doch das Gesicht der Königin war weder feindselig oder verärgert. Ihre unsteten Blicke zu den Reihen der Tische, an denen sich Soldaten, Mägde, Diener, Kammerdamen und anderen Bewohner von Haegalac drängten, wirkten stattdessen, als suche sie etwas... oder jemanden.
Nach dem letzten Gang aus in Honig gebackenen Früchten begann die Halle, sich zu leeren. Eine Kinderfrau holte Gewyna ab. Pellinor versuchte, den Blick seiner Eltern aufzufangen, um stumm darum zu bitten, sich ebenfalls entfernen zu dürfen. Doch es gelang ihm nicht. So hatte er sich gerade zurückgelehnt und über der nun schwach vernehmbaren Harfenmelodie die Augen geschlossen, als er merkte, wie jemand hinter ihn trat. Im nächsten Moment spürte er eine Hand auf seiner Schulter und hörte Heribards Stimme.
„Komm“, sagte der Seneschall so leise, dass Pellinor es in der lärmenden Halle kaum hören konnte, „Dein Vater wünscht es.“
Verwirrt drehte Pellinor den Kopf. „Worum geht es?“
Heribard hatte sich schon wieder aufgerichtet und musterte unbewegt die geschnitzte Täfelung am anderen Ende der Halle.
Pellinor zuckte die Schultern, erhob sich ein wenig schwerfällig und rieb sich die müden Augen. Dann folgte er Heribard aus der Halle führte. Doch der Seneschall führte ihn nicht zu dem großen, von Schnitzereien umgebenen Hauptportal, sondern öffnete eine kleinere Tür direkt hinter dem hohen Tisch. Pellinor folgte ihm hinein, und nach einem kleinen engen Vorraum erstiegen sie eine steile, ausgetretene Wendeltreppe. Sie führte in einen Raum, der direkt über der großen Halle lag und fast genauso geräumig war, auch wenn die niedrige Decke und die holzgetäfelten Wände ihn behaglicher erscheinen ließen. Dies war der Saal, in dem die Clan-Ersten von Nituria sich versammelten. Die Banner mit den Wappen ihrer Familien, die während Medons Herrschaft in der Stadt versteckt gehalten worden waren, bedeckten nun wieder die Wände rund um das Schwanenwappen von Nituria. Die kreisrund angeordneten Sitze der Clan-Ersten, auf denen sie während ihrer Diskussionen Platz nahmen, standen jedoch verwaist.
Pellinor schreckte aus seiner Betrachtung der Wappentiere auf den Bannern, als die zweite, größere Tür zu dem Raum geöffnet wurde. Adoras trat herein, nickte, als er Pellinor sah, und winkte dann seinen Begleiter in den Raum. Es war eine groß gewachsene, sehnige Gestalt – Faeverral, die Amazonenkönigin.
Adoras lächelte Pellinor zu. „Wir haben die Tafel aufheben lassen. Königin Faeverral möchte mit dir sprechen, Pellinor.“
„Wegen... wegen des Geredes der Clanherren?“, stammelte Pellinor verwirrt.
Faeverral lachte, doch es war ein müdes Lachen, das ihre hellen Augen nicht erreichte. Mit einem Wink bedeutete sie ihren niturianischen Wächtern und den Amazonen, die Adoras begleiteten, den Raum zu verlassen. „Aber nein. Ich wollte mit dir selbst sprechen, Pellinor. Es geht um eine Nachricht, die an dich zu übermitteln mir aufgetragen wurde. Ich weiß nicht, was sie bedeutet oder ob du sie verstehen wirst. Doch ich habe beschlossen, trotzdem hierher zu kommen.“
„Eine Nachricht?“, fragte Pellinor verwundert, unwillkürlich an Adoras gewandt. Doch der schüttelte den Kopf.
„Ich habe sie deinem Vater nicht genannt, denn sie ist ausdrücklich für dich bestimmt“, sagte Faeverral, „Adoras ist einverstanden, dass wir uns allein darüber unterhalten.“
„Oh... nein, das ist nicht nötig!“, versicherte Pellinor hastig, „Er kann bleiben. Ich habe nichts zu verstecken.“
Die Amazonenkönigin nickte, schritt zu einem der Sitze und nahm darauf Platz. Die Augen auf den leeren gegenüberliegenden Stuhl gerichtet, begann sie.
„Als mein Volk nach Breár-den in den Kampf gegen Medon zog, fiel uns unterwegs eine Horde an, die keinem glich, was wir zuvor zu Augen bekommen hatten. Es waren keine Menschen, doch auch keine Tiere – sie hatten Gesichter, Arme und Beine, doch ihre Haut war pechschwarz und mit Fell und Schuppen bedeckt. Ihr Biss tötete schlimmer als der jeder Viper. Doch wir vernichteten sie. Einer von ihnen trug ein Holzamulett. Ich behielt es und habe es damals ohne Nachzudenken deiner jungen Freundin gegeben, als sie mich darum bat. Das war leichtsinnig.“
Pellinor setzte sich ihr gegenüber und verschränkte die Hände in seinem Schoß. Unwillkürlich verkrampften sich seine Finger. „Das Amulett, das Ihr Eolée gegeben habt?“ Er wurde nicht gern an Eolée erinnert, seine beste Freundin. Sie war zu ihrer Familie ins Nachbarland Ruénhanor zurückgekehrt, einige Tagesritte weit im Osten.
Faeverral griff zwischen die Falten ihres Gewands und streckte Pellinor etwas entgegen. „Nach dem Sieg gegen Medon verließen wir die Felder von Fioran und zogen mit unseren Pferdeherden zu einem unserer am weitesten nordöstlich gelegenen Weidegründe. Vor einigen Tagen verschreckte etwas die Tiere. Was auch immer es war, hielt sich versteckt. Wir stellten Wachen für die Nacht ab und alles blieb ruhig. Doch am nächsten Tag fand ich dies hier festgeknotet an der Mähne meines Pferdes. Unsere Ältesten halten es für einen verhexten Unglücksbringer, und sie mögen Recht haben. Doch sieh selbst.“
Zögerlich erhob Pellinor sich. Er sah etwas in ihrer Hand schimmern und griff unwillkürlich danach. Im nächsten Moment riss er seine Hand mit einem halb überraschten, halb schmerzerfüllten Laut zurück, dass das Ding aus Faeverrals Hand zu Boden fiel. Ein Strom von Kälte hatte Pellinors Finger durchzuckt, so schmerzhaft, als bissen ihn Zähne aus Eis.
Vor seinen Füßen lag eine etwa handtellergroße, dreieckige Scheibe aus schwarzem Holz, auf der feine silbrig glänzende Einlegearbeiten wie Perlmutt schimmerten. An einem Ende war ein Stück Rosshaar durch ein Loch gefädelt.
Pellinor sah auf und begegnete Faeverrals verständnislosem Blick. Sie runzelte die Stirn. „Sieh dir die Rückseite an. Es sieht aus, als versuche jemand, dir etwas mitzuteilen.“
Hatte Faeverral die Kälte nicht bemerkt? Pellinor hielt den Atem an und zwang sich, mit den Fingerspitzen nach dem eiskalten Ding zu greifen. Zu seiner Überraschung fühlte das dunkle Holz sich nun kühl an wie Metall. Er konnte es nehmen, ohne sich daran zu verletzen.
Die silbrigen Muster waren aus einem rauchig silbrigen Quarzstein gefertigt, dessen geschliffene Oberfläche das Licht in Regenbogenfarben brach. Das vom Alter verdunkelte Holz des Anhängers schien von einem ungemein geschickten Handwerker um einen flachen Kern aus diesem Stein geschlossen worden zu sein. Das Holz war auf einer Seite von einer komplizierten Schnitzerei durchbrochen, sodass der Stein in schimmernden Linien sichtbar wurde. Bei näherem Hinsehen erkannte Pellinor, zu was diese sich zusammensetzen: Es war die Gestalt eines gehörnten Drachen.
Faeverrals Gewand raschelte, als sie die Arme verschränkte. Jäh aus seiner andächtigen Betrachtung geschreckt drehte Pellinor den Anhänger um. Sofort fielen ihm ungelenke Linien auf, die mit einem scharfen Gegenstand in das glatte Holz gekratzt worden waren und seine helle Farbe unter der vom Alter verdunkelten Oberfläche sichtbar werden ließen, ein erschreckender Kontrast zu der vollkommenen Schönheit der Vorderseite.
Erst auf den zweiten Blick merkte er, dass die Striche schiefe Runen formten, die von einem grob gezogenen fünfzackigen Stern eingeschlossen wurden. Er entzifferte drei Worte: PEL-EL-LINOR EDRAN GNIFALDIR.
Pellinors Augen blieben an dem letzten Wort hängen und er merkte, wie sein Herz auf einmal schneller schlug.
Gnifaldir.
464 Seiten, broschiert
16,90 €
Erscheinungstermin März 2014 - jetzt erschienen.